Der Raum zwischen Reiz und Reaktion – Wie Führungskräfte Klarheit und Wirkung gewinnen

Achtsame Führung: Der Raum, der alles verändert

„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.“ – Viktor E. Frankl

Dieses Zitat von Viktor Frankl begleitet mich seit vielen Jahren. Vielleicht ist es sogar das Zitat, das meine Sicht auf Führung und Leben am stärksten verändert hat. Frankl hat das Konzentrationslager überlebt, weil er – trotz unvorstellbarer Grausamkeit – an seiner inneren Freiheit festhielt. Die äußeren Umstände konnte er nicht beeinflussen, aber er konnte entscheiden, welche Bedeutung er ihnen gab.

Genau dort, in diesem kleinen unscheinbaren Raum zwischen Reiz und Reaktion, entscheidet sich, ob wir als Führungskräfte nur automatisch reagieren – oder ob wir unseren Führungsalltag bewusst gestalten.


Viktor E. Frank

(Foto: Prof. Dr. Franz Vesely, 1965 – Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons)

Ein Beispiel aus der Praxis: Restrukturierung

Wie zeigt sich dieser „Raum dazwischen“ im Führungsalltag konkret?

Die Konzernleitung ordnet eine massive Restrukturierung an. Viele Stellen sind gefährdet. Der erste Gedanke: „Katastrophe, mein Team wird auseinandergerissen.“ Angst liegt in der Luft.

Doch an diesem Punkt beginnt Achtsamkeit: innehalten, beobachten, reflektieren. Statt sich ausschließlich als Funktionsträger einer undankbaren Aufgabe zu sehen, kann eine Führungskraft die Rolle bewusst neu definieren: Nicht als jemand, der Strukturen verteidigt, sondern als jemand, der Menschen in schwierigen Zeiten Halt gibt.

Diese Verschiebung verändert alles: Das Team erlebt Orientierung, Vertrauen und Zusammenhalt, obwohl die äußeren Umstände unverändert hart bleiben. Genau darin liegt die Essenz von Führung: im Raum zwischen den äußeren Ereignissen und der eigenen bewussten Reaktion.

Fünf Schritte, die Achtsamkeit in Leadership übersetzen

Das Praxisbeispiel Restrukturierung zeigt, dass es nicht reicht, den ersten Impuls zu unterdrücken. Entscheidend ist, wie ich diesen Moment gestalte. Achtsamkeit lässt sich dabei in fünf Schritte übersetzen:

  1. Ganz im Moment sein, mit allen Sinnen
    Statt sofort in Panik oder Abwehrgedanken zu verfallen, nimmst du die Situation wahr: die Anspannung im Raum, die Unsicherheit deiner Mitarbeitenden, deine eigene innere Unruhe. Präsenz heißt hier: Da sein, bevor du handelst.

  2. Wahrnehmen, bevor du bewertest
    Dein erster Impuls ist: „Katastrophe, mein Team wird auseinandergerissen.“ Doch du lässt diesen Gedanken nicht endgültig werden. Du registrierst, dass dies eine mögliche Deutung ist – nicht die einzige.

  3. Offen bleiben, auch wenn dein Kopf urteilen will
    Natürlich meldet sich die innere Stimme: „Das ist eine undankbare Aufgabe.“ Achtsamkeit heißt, auch diesen Gedanken zu bemerken – und trotzdem offen zu bleiben für eine andere Perspektive.

  4. Bewusst antworten, statt automatisch zu reagieren
    Du beginnst zu reflektieren: Welche Rolle kannst du in dieser Transformation übernehmen? Was brauchen die Menschen jetzt am meisten? So wählst du bewusst die Haltung: Ich bin hier, um Orientierung und Halt zu geben.

  5. Erfahrungen integrieren und wachsen lassen
    Mit der Zeit verändert sich dein Selbstbild: Nicht mehr bloßer „Funktionsträger einer schwierigen Aufgabe“, sondern jemand, der Sinn stiftet und Vertrauen gibt. Diese Erfahrung lässt dich als Führungskraft wachsen – und zeigt deinem Team, dass Führung auch in der Krise Halt geben kann.

Diese fünf Schritte wirken wie eine innere Landkarte. Sie führen durch Unsicherheit hindurch – und machen aus Reaktivität eine bewusste Gestaltungskraft.

Vier Stolperfallen, die den Raum zwischen Reiz und Reaktion verdecken

So wertvoll dieser Raum ist – oft übersehen wir ihn, weil alte Muster ihn verschütten. Gerade in stressigen Situationen sind wir anfällig für automatische Reaktionen. Vier Stolperfallen treten dabei besonders häufig auf:

  1. Ego – der Drang, recht zu behalten
    Das Ego reagiert schnell gekränkt und will beweisen, dass es recht hat. Damit verschließt es den Raum für neue Sichtweisen. Wer achtsam innehalten kann, öffnet sich für andere Perspektiven und entdeckt oft blinde Flecken, die Wachstum ermöglichen.

  2. Automatische Urteile – die schnelle Schublade im Kopf
    Unser Gehirn liebt es, sofort zu bewerten und in Schubladen zu sortieren. Das führt zu vorschnellen Schlüssen, die selten die ganze Wahrheit abbilden. Achtsamkeit schafft hier den Abstand, Beobachtungen von Bewertungen zu trennen.

  3. Stressgetriebener Aktionismus – sofort losrennen, ohne Richtung
    Unter Druck will der Körper sofort handeln, um Kontrolle zu spüren. Doch diese schnelle Reaktion kostet oft mehr Energie, als sie löst. Im Raum dazwischen entsteht die Möglichkeit, zuerst Klarheit zu schaffen und dann zielgerichtet zu handeln.

  4. Opferrolle – das Gefühl, nichts ändern zu können
    Die Haltung „Ich kann sowieso nichts tun“ nimmt Energie und Verantwortung. Sie macht passiv und verstellt den Blick auf die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Achtsamkeit hilft, den inneren Standort zu wechseln – von der Ohnmacht zur Gestaltungsfreiheit.

Diese Stolperfallen begegnen uns täglich – in Meetings, im Umgang mit Druck oder in Konflikten. Sie sind menschlich, aber sie sind nicht unausweichlich. Achtsamkeit hilft, sie zu erkennen und den Raum dazwischen offen zu halten.

Warum Achtsamkeit mehr ist als ein „Soft Skill“

Viele belächeln Achtsamkeit als Esoterik oder „Soft Skill“. In Wahrheit ist sie einer der härtesten Führungs-Skills überhaupt. Denn wer nicht in Stressmustern gefangen sein will, braucht die Fähigkeit, innezuhalten, klar zu bleiben und bewusst zu entscheiden. Führung bedeutet nicht, immer schneller zu reagieren – sondern den Raum dazwischen zu nutzen.

Genau in diesem Raum entsteht das, was moderne Führung ausmacht. Wer diesen Raum kultiviert, erweitert sein Handlungsspektrum – von automatischer Reaktion hin zu bewusster Gestaltung.

Achtsamkeit ist damit weit mehr als Selbstregulation. Sie ist der Schlüssel zu neuen Perspektiven, besseren Entscheidungen und echter Verbindung. Ihre eigentliche Kraft liegt darin, Führung nicht nur stabiler, sondern auch menschlicher und zugleich effektiver zu machen.

Fazit: Mitarbeiterführung beginnt im Raum dazwischen

Frankls Zitat erinnert uns: Freiheit beginnt nicht dort, wo alles leicht ist. Sie beginnt dort, wo wir trotz Druck, Kritik oder Unsicherheit innehalten – und eine bewusste Wahl treffen.

Für Führungskräfte bedeutet das:

  • Ego, Urteile, Aktionismus und Opferrolle durchschauen.

  • Situationen neu rahmen, Sinn stiften, Orientierung geben.

  • Aus Automatismen aussteigen und bewusst gestalten.

Achtsamkeit ist somit kein esoterisches Beiwerk, sondern Kernkompetenz wirksamer Führung. Sie bestimmt, ob wir Situationen einfach über uns hinwegrollen lassen – oder ob wir sie bewusst in Richtung Sinn, Verbindung und Zukunft gestalten.

Dr. Johannes Gaismayer ist Coach und Mentor für achtsame Führung. Er begleitet Führungskräfte und Unternehmen dabei, Präsenz, emotionale Intelligenz und Selbstregulation nachhaltig zu stärken.

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